Portrait: Radsport-Funktionär Lutz Graf

Es gibt Funktionäre, die ihr Amt vor allem deshalb ausüben, weil sie gerne im Vordergrund stehen. Denen eine Woche ohne eigenen Zeitungsartikel so unangenehm ist wie der Gang zur Waage nach dem Zweiten Weihnachtsfeiertag. Das ist nicht abwertend gemeint, sondern lediglich das Ergebnis von zehn Jahren Berufserfahrung. Andere geben nur ungern Auskunft zur eigenen Person, stehen lieber im Hintergrund.

Lutz Graf gehört weder zur einen noch zur anderen Funktionärs-Gattung. Und falls doch, dann eher zur zweiten Kategorie. Da aber Geschichten über Organisationen, Vereine und Vereinigungen sich am besten erzählen lassen, wenn ein Mensch im Mittelpunkt steht, ließ das „stille Wasser“ Lutz Graf uns tauchen.

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„Also, der IBRMV“, beginnt Lutz Graf, wie immer mit Anzug und Krawatte gekleidet, das Gespräch vergangene Woche in der Sportredaktion. IBRMV, dieses Kürzel, das der Löffelinhalt einer Buchstabensuppe sein könnte, steht für „Internationale Bodensee Rad- und Motorfahrer-Vereinigung“. Das liest sich so sperrig, dass wir es fortan lieber beim Kürzel „IBRMV“ lassen. Gegründet 1926 in Lindau, zählt die Vereinigung der Bodensee-Anrainer heute 70 000 Mitglieder, an deren Spitze seit vier Jahren eben Lutz Graf steht. Dazu mehr in der Infoleiste nebenan, denn so bemerkenswert die Entwicklung der Vereinigung auch ist, interessiert uns zunächst einmal GRAF mehr als IBRMV.

Es geht los und bereits mit der ersten Antwort gerät der sportliche Bericht zur deutschen Geschichtsstunde. Geboren? „1943 in Dresden“. Der Zweite Weltkrieg, das verheerende Bombardement der Landeshauptstadt Sachsens: „Ich war da ja noch zu klein, weiß das nur von Erzählungen“, erklärt Graf, dass er als Kleinkind Scharlach und eine Mittelohrentzündung hatte, als die Bomben auf Dresden fielen. „Medikamente gab es nicht, deshalb ist seither mein linkes Ohr kaputt.“ Bewusst setzt er sich seither zur Linken seiner Gesprächspartner, damit das rechte Ohr, das funktionierende, näher am Gegenüber ist. Schwerer war die Verletzung, die sein Vater in den Kriegsjahren erlitt. „Der war Jagdflieger und wurde zweimal abgeschossen.“ Beide Male kam er nur knapp mit dem Leben davon, beide Unterschenkel mussten amputiert werden. Die Nachkriegsjahre im geteilten Deutschland waren schwer, erinnert sich der gebürtige Sachse, auch wenn der Vater bei einer Speditionsfirma einen Job fand. Genau dieser hätte ihn in der DDR aber fast ins Gefängnis gebracht. Gefängnis? Als Angestellter einer Spedition? „Er hat 1952 auftragsgemäß die Lieferung einer Schokoladenfabrik von Dresden nach Hamburg abgewickelt. Das hat einigen nicht gepasst.“ Von Bekannten erfuhr die Familie, dass dem Vater eine Gefängnisstrafe drohte – und beschloss zu flüchten. „Damals gab es ja noch keine Mauer, man konnte per Straßenbahn von Ost- nach West-Berlin reisen und sich absetzen.“ Familie Graf entschied sich, getrennt in die Bundesrepublik zu fliehen. Zuerst die Eltern, dann die Kinder, denen ein Freund der Familie half. „Das war wie im Krimi. Wir wurden verfolgt und mussten von Straßenbahn zu Straßenbahn hasten, um den Stasi-Mann abzuhängen.“

Den Stasi-Mann – und wir wollten über den IBRMV reden! Über Zahlen und Veranstaltungen, die mit einer solchen Lebensgeschichte so viel zu tun haben wie Dolly Buster mit dem Dettinger Gesangverein, wo Lutz Graf heute einmal pro Woche singt, wenn nicht gerade eine Rad-Sitzung ansteht.

Nein, nix mit IBRMV, vielleicht später, Herr Graf. Wie ging es damals weiter? „Nach der geglückten Flucht kamen wir im Flüchtlingslager Berlin-Staaken unter. Da habe ich meine erste Banane gegessen“, wird der „Ossi“ Graf einem Klischee gerecht und entkräftet gleich darauf ein anderes: „Geschmeckt hat sie mir überhaupt nicht.“

Von Berlin ging es nach Rastatt und schließlich in das Flüchtlingslager in der Singener Südstadt. Das war 1953. Die Unterkünfte, daran erinnert sich Graf noch genau, waren beengt und an ein normales Familienleben nicht zu denken. „Beim Bahnhof, in der alten Post im Obergeschoss“, fanden die Grafs dann eine Bleibe. „Heute ist da der Karstadt drin“, weiß der 66-Jährige, der nach seiner Schulzeit mit 16 Jahren eine Lehre als Speditionskaufmann begann und damit seinem Vater nacheiferte, der mit Gangschaltung und Gashebel am Lenkrad trotz Behinderung Auto fuhr. Wie wurden sie in Westdeutschland aufgenommen? „Da gab es schon Ressentiments. Aber eigentlich nur am Anfang.“ Lange zurück liegen diese Erinnerungen, erzählt übrigens im breitesten Bodenseeslang. Das Sächsische ist längst Vergangenheit. „Wir hatten bei der Flucht nur das dabei, was wir am Leibe trugen. Alles andere ließen wir zurück.“ Selbst den Dialekt.

Ein neues Leben. Ein neuer Anfang. In Singen und bei seinen späteren Arbeitgebern in Schaffhausen und Konstanz fand Lutz Graf Freunde, die Liebe zum Radsport – und seine Frau Monika. „Sie kam aus dem Ruhrgebiet und wechselte extra den Job, um mir nahe zu sein.“ Der Beginn einer Liebe, die nicht auf den ersten Blick da war, sondern sich eben entwickelte. „Wir waren beide sportlich, machten viele Radausflüge.“ Dann die Heirat, 1973 wurde Sohn Patrick geboren, drei Jahre später Tochter Jennifer.

1982 kommt Graf dann zum organisierten Radsport, wird beim VMC Konstanz, dessen Mitglied er seither ist, Touren- und Wanderfachwart. Auch für den Bezirk Hegau-Bodensee ist er aktiv und wirkt ebenfalls seit jenen Jahren im Vorstand mit. „Lutz Graf ist ein Perfektionist. Einer, der für Vereine und Verbände von unschätzbarem Wert ist“, sagt der heutige VMC-Präsident Thomas Keck. Die von Graf organisierten Wanderfahrten zu den Konstanzer Partnerstädten Fontainebleau (Frankreich), Tabor (Tschechien) und Lodi (Italien) sind bis heute bei den Radsportlern am See legendär, „weil sie einfach super geplant waren“, so Keck.

Graf ist damals längst anerkannt und geschätzt in Radsportkreisen. Doch 1995 gibt er alle Ämter ab. Seine Frau Monika war schwer erkrankt. „Der Krebs“, erklärt Graf. „Sie starb fünf Jahre nach der Diagnose.“ Stille. Was soll man sagen? „Es war schwer“, setzt Graf fort. Seine Rückkehr in die diversen Funktionärsämter ist auch eine Art Vergangenheitsbewältigung. Eine Rückkehr in ein normales Leben, sofern das überhaupt möglich ist. Als bei der IBRMV die Präsidentin Erika Teucher (Schweiz) stirbt, übernimmt er auch dieses Amt und kämpft seitdem für die Interessen der Rad- und Motorsportler rund um den Bodensee. „Ich bin ja inzwischen pensioniert und habe Zeit. Außerdem will ich diesen tollen Sport fördern“, erklärt Graf seine Motivation. Die IBRMV-Meisterschaften stehen in einigen Sparten, wie etwa dem Kunstradsport, inzwischen gleich hinter Weltmeisterschaften. „Das ist hochklassiger Sport und verdient Anerkennung.“

Anerkennung statt Ablehnung. Der Radsport hat es schwer in Zeiten von bald wöchentlichen Doping-Meldungen. „Man muss sich schon einiges anhören und es ist definitiv schwerer geworden, Leute zu ehrenamtlichem Engagement im Radsport zu bewegen.“ Doping? „Wer das macht, der gehört lebenslang gesperrt. Ohne Wenn und Aber“, fordert der 66-Jährige noch härtere Strafen als es sie heute gibt. Sind die Amateure sauber? Anders als die Profis? „Ich halte für keinen meine Hand ins Feuer. Aber ich glaube, dass die Mehrheit der Amateure sauber ist. Es ist an uns, den Radsport wieder vertrauenswürdig zu machen.“

Deshalb will Lutz Graf jetzt eben lieber noch über die IBRMV, seine Ziele und Veranstaltungen sprechen. Damit sich eben wieder mehr Menschen für den Radsport engagieren. Damit es aufwärts geht. Ist das aber überhaupt möglich? Ja, denn wer solche Vorbilder in den eigenen Reihen hat, dem … – ach, den Rest kann sich jeder selber denken.

(Südkurier, Ausgabe vom 25.05.2009)